28. August 2011

Libyen: Eine Woche in Tripolis

Seit einer Woche ist Tripolis in der Hand der Aufständischen. Nach der Erhebung der Aufständischen in der Stadt und dem Einmarsch weiterer Kämpfer aus anderen Teilen Libyens wurden von der Gaddafi-Festung und -Residenz Bab Al-Aziziya aus die Wohngebiete in der Umgebung mit Mörsern und Granaten beschossen. Am Dienstag wurde ein Angriff auf den wichtigsten Stützpunkt des Regimes, der diesem in der Hauptstadt verblieben war, gewagt. Und tatsächlich wurde dieses Symbol des verhassten Regimes gestürmt. Nach Stunden der Belagerung war es ihnen gelungen, in das Gelände einzudringen. Kaum waren die Kämpfer auf dem Gelände, brach der Widerstand dann schnell zusammen. Man kann schlecht übertreiben, was das für die Libyer bedeutet. Es ist ähnlich zu bewerten wie der Sturm auf die Bastille während der französischen Revolution oder auf den Zarenpalast in der russischen. Schließlich standen die Aufständischen buchstäblich im Schlafzimmer des Diktators.

Bis einschließlich Freitag kam es dann noch zu schweren Gefechten, v. a. im Stadtteil Abu Salim, der südlich von Bab Al-Aziziya liegt. Auch der von den Aufständischen besetzte internaltionale Flughafen wurde von Gaddafi-treuen Truppen immer wieder angegriffen. Seit Sonnabend ist es im Wesentlichen ruhig in Tripolis. Es besteht also die Hoffnung, dass der vorhergesagte wochenlange Kampf um Tripolis nach einer Woche vorüber und der Hauptstadt ein Schicksal wie dem schwer zerstörten Misratah erspart geblieben ist. Trotzdem hat die Befreiung der Stadt Hunderten das Leben gekostet. Genaue Zahlen stehen noch nicht fest.

Mit der Durchsuchung ehemaliger Geheimdienstbüros, Kasernen, Gefängnissen und anderer Orte kommen immer mehr Leichen im Keller des Regimes zum Vorschein. Und das ist wörtlich zu verstehen. Bei den Gefechten um Abu Salim wurde auch das dort befindliche berühmt-berüchtigte Gefängnis befreit. Etwa 2.500 Gefangene wurden angetroffen. Berichte über Folterungen und andere Verbrechen bestätigen leider das, was von vielen befürchtet war: Gnade kannte das Regime im Umgang mit seinen Gegnern nicht. Einige Gefangene sind seit Jahren ohne Anklage inhaftiert, einer seit 18 Jahren(!). Andere können zurzeit nicht mal sprechen. Es scheint auch, als seien in den letzten Tagen mindestens 140 Gefangene getötet worden. Und auch an anderen Orten werden Leichen gefunden: 17 in einem Geheimdienstbüro, 32 in Bab Al-Azziya, 170 in einem Militärstützpunkt usw.  Heute wurde bekanntgegeben, dass zwar etwa 11.000 Gefangene in Tripolis befreit wurden, aber noch 46.000(!) vermisst werden, die zuletzt in den Händen des alten Regimes waren.

In vielen Medien ist davon die Rede, dass es Verbrechen bzw. "Massaker" auf beiden Seiten gäbe. Von "beiden Seiten" ist die Rede, weil Reuters und Al Jazeera Arabiya übereinstimmend berichteten, in einem Feldlazarett in Tripolis seien mehr als 30 Leichen gefunden worden, die offensichtlich dem Regime angehört haben und getötet wurden, zwei davon mit gefesselten Händen auf dem Rücken, einer noch mit der Infusionsnadel im Arm.

Obwohl dieses Verbrechen weit davon entfernt ist, aufgeklärt zu sein, sprechen die Indizien für Aufständische als Täter. Und es sollte keinen überraschen, wenn dies so wäre. Auf Seiten der Opposition gegen das Regime gibt es viele Gründe, mehr als nur verbittert zu sein: über 40 Jahre Unterdrückung, systematische Verfolgungen, Folter, der massive Einsatz von Schusswaffen gegen friedliche Demonstranten, der Beschuss von Wohngebieten mit schwerer Artillerie, Tötungen ihrer gefangenen Kämpfer etc. pp. Dessen ungeachtet ist die Tötung wehrloser Gefangener nach internationalen Konventionen verboten und gilt als Kriegsverbrechen. Und das mit Recht.

Aber die Formulierung "Verbrechen auf beiden Seiten" impliziert eine Gleichstellung, die so nicht gegeben ist. Erstens ist das Ausmaß der Verbrechen des alten Regimes eine ganz andere Dimension. Wenn es denn Aufständische waren, wäre es wahrscheinlich nicht das erste Verbrechen dieser Art (so soll es bei den Kämpfen im Nafusa-Gebirge zu vereinzelten Tötungen Gefangener gekommen sein, ebenso bei den Kämpfen in Misrata), aber diese kann man bisher noch als "sporadisch" bezeichnen. Ebenso war und ist z. B. die Kriegsführung der Aufständischen eine völlig andere. Viele Operationen wurden abgebrochen, weil sie Zivilisten nicht gefährden wollten. Und zweitens, und das ist das Wesentliche, ist die erklärte Politik auf Seiten der jeweiligen Führung eine völlig gegensätzliche. Mustafa Jaleel, der Vorsitzende des Übergangsrates, appelliert nicht erst seit dem Einmarsch in Tripolis an die Kämpfer, nicht Rache zu üben und die Menschenrechte auch der gefangenen Regimetreuen zu achten, aber seit dem Einmarsch in Tripolis tut er dies täglich. Auf der anderen Seite steht das Regime mit einem Gaddafi an der Spitze der seine Gegner als "Ratten" bezeichnet und seine Anhänger, zuletzt auch Frauen und Kinder, dazu aufruft, Tripolis von den Aufständischen zu "säubern" und seine Gegner zu vernichten. An der Integrität von Jaleel bestehen keine Zweifel. Der Mann hat sich auch als Justizminister unter Gaddafi für Menschrechte eingesetzt und wurde schon Jahre vor dem Aufstand in Menschenrechtsberichten von Human Right Watch und Amnesty International lobend erwähnt. Über die moralische Integrität eines Muammar Gaddafi hingegen braucht man gar nicht nachzudenken. Zusammengefasst gesagt: Das Regime spricht seinen Gegnern jegliche Rechte ab und will systematisch Verbrechen begehen. Der Übergangsrat plädiert für die Einhaltung der Menschenrechte und Verbrechen werden bisher nur sporadisch von Leuten begangen, die zwar im Zusammenhang mit dem Übergangsrat kämpfen, aber nicht unter dessen Kontrolle stehen.

Westlich von Tripolis scheint nach Gefechten unter der Woche die wichtige Straße nach Tunesien nun unter der Kontrolle der Aufständischen zu stehen, einschließlich des Grenzüberganges. Mittlerweile soll der Verkehr wieder zu fließen beginnen.

Im Osten verbleibt den Kräften des alten Regimes nur noch Sirte. Diese ist schwer befestigt und stark besetzt. Seit Tagen gibt es Verhandlungen mit Vertretern der Stadt seitens des Übergangsrates. Daneben sind die Aufständischen bis nach Ban Jawad vorgestoßen.

Mittlerweile ist ein Teil des Übergangsrates nach Tripolis gezogen und hat die Arbeit aufgenommen. Größte Probleme sind die Wasserversorgung, die Stromversorgung und damit einhergehend die Versorgung der Verletzten.

Es wurde zudem ein Militärkommandant für Tripolis ernannt, ein ehemaliges Mitglied der LIFG, was bei einigen westlichen Kommentatoren Besorgnis erregte. War die LIFG doch mal mit Al-Qaida verbündet. Auch kehrt die normale Polizei, die als relativ unbelastet gilt, auf die Straßen zurück.

Am Sonnabend tagte die Arabische Liga in Kairo. Als Vertreter Libyens wurde der Vorsitzende des Übergangsrates, Mustafa Jaleel, mit stehenden Ovationen begrüßt. Die Flagge des Gaddafi-Regimes wurde durch die vorherige ersetzt. Damit hat die erste internationale Organisation den Machtwechsel in Libyen formal anerkannt.