9. Februar 2011

Belagerung des Parlaments

Gestern ist ein Zug von Demonstranten vom Tahrir-Platz zum Parlament gezogen. Seit dem wird das Parlament belagert. Auch in der Nacht harrten die Demonstranten aus und schliefen auf Decken vor dem Gebäude. Heute dauerte die Belagerung an. "Wenn die Politiker uns nicht hören, müssen wir ihnen eben unsere Botschaften direkt überbringen" hieß es aus den Kreisen der Aufständischen. Und es wurde ein Schild angebracht: "Geschlossen bis zum Sturz des Regimes". Um das Parlament zu schützen, hat erstmals in der Geschichte Ägyptens die Armee das Parlamentsgelände betreten. Die Soldaten machen aber keine Anstalten, die Demonstranten zu vertreiben.

Die Regierungspartei NDP hat eine Mehrheit von 80% in der "Ägyptischen Volksversammlung". Die "Wahlen" Ende 2010 waren alles andere als frei, geheim und fair. Oppositionelle Kandidaten wurden nicht zugelassen, eingeschüchtert und verprügelt. Hierbei wurden die Schlägerbanden seitens des Regimes eingesetzt, die auch letzte Woche die Demonstranten am Tahrir-Platz brutal angegriffen haben. Am Wahltag wurden massiv Wähler am Wählen gehindert und kam es sogar zu Toten. Die sofortige Auflösung dieses Parlaments ist eine der Forderungen der Opposition.

Kentucky Fried Chicken und der Aufstand

Die Propangda der staatlichen Medien treibt immer absurdere Blüten. So sahen "anständigen Bürger" Ägyptens, dass einige Demonstranten am Tahrir-Platz Produkte von Kentucky Fried Chicken aßen. Viele riefen daraufhin staatliche Medien an, weil das ja ein "Beweis" sei, dass die Aufständischen vom Ausland gesponsort seien. Und die staatlichen Medien hatten nichts Besseres zu tun, als diesen Unsinn zu verbreiten.

Merke: Denunziantentum und Dummheit gehen gern Hand in Hand.

Übrigens:

Revolte auch in Ismailiya

In Ismailiya (285.000 Einwohner, gelegen am Westufer des Suezkanals) haben Bewohner ein Regierungsgebäude gestürmt und das Auto des Gouverneurs angezündet. Unter den Demonstraten sollen hauptsächlich Bewohner eines Slums gewesen sein. Seit Jahren forderten sie die Verbesserung ihrer Wohnsituation, nie ist etwas passiert. Einige wohnen seit 15 Jahren in behelfsmäßigen Hütten.

Diese Wohnverhältnisse sind kein Einzelfall. Allein in Cairo wohnen etwa ein Viertel bis ein Drittel der Menschen in Slums ohne Kanalisation und ohne Müllabfuhr.

Fünf Tote in der Oase Kharga

Leider haben sich die Gerüchte bestätigt: In der Oase Kharga  gab es fünf Tote und etwa 100 Verletzte. Das berichtet AFP unter Berufung auf Ärzte vor Ort. Alle wurden durch Polizeikugeln getötet.

08.01.2011: Größte Demonstrationen seit Beginn des Aufstandes

Die Berichterstattung über Ägypten war gestern in Deutschland recht kurz angesichts dessen, dass z.B. die BBC berichtete, dass es die größten Demonstrationen seit Beginn der Protestbewegung waren. Wahrscheinlich sind die Medien mal wieder gesättigt und solange nichts Dramatisches passiert, was spektakuläre Bilder liefert, wird die Berichterstattung heruntergefahren.

Dabei ist Ägypten das bevölkerungsreichste arabische Land. Seine islamischen Lehrstätten haben großen Einfluss auf die sunnitische Richtung des Islams (ca. 90% der Moslems sind Sunniten). Führende Prediger Ägyptens, die bisher von Staat bezahlt werden, haben sich auf die Seite der Opposition geschlagen. Einer erklärte: "Seit dem ich offen sage, was ich denke, fühle ich mich näher bei Gott." Uns scheint so etwas merkwürdig, aber die Religion ist dort eine Kraft, die nicht zu unterschätzen ist. Deshalb wäre es auch so wichtig, wenn in diesem großen islamisch geprägten Land eine Demokratie errichtet werden kann. Die ganzen Vollidioten von Al Qaida und Co. sind deshalb über die Entwicklung in Ägypten auch überhaupt nicht begeistert und erklären, Demokratie sei "unislamisch" und das ganze vom Westen gesteuert (da sind sie sich mit der ägyptischen Regierung einig).

Hier nochmal ein kleiner Eindruck von gestern:

Tahir-Platz 08.02.2011

- Vizepräsident Suleiman, der offensichtlich zur Zeit der "operative" Präsident ist, hat gefordert, dass die Proteste "schnell" aufhören. Wenn nicht, drohte er damit, das "etwas" passieren würde. Auf Nachfragen, ob er damit einen Militärputsch meine, verneinte er dies, sondern sprach von einer "Kraft, die nicht vorbereitet ist, zu regieren." Dunkle Andeutungen gehören zum täglichen Geschäft dieses Herren, schließlich ist der Geheimdienstchef, der auch persönlich an Folterungen beteiligt war: http://english.aljazeera.net/indepth/opinion/2011/02/201127114827382865.html%20
Die Reaktion der Opposition auf diese Drohungen des Vizepräsidenten lauten in etwa: "Womit will der uns drohen? Das Militär hat seit über 50 Jahren die Macht. Wir leben bereits in einer Diktatur."

- Herrn Suleimans Äußerungen vom Montag, die Ägypter seien nicht reif für eine Demokratie, wurden gestern von einem Sprecher des Weißen Hauses als "nicht hilfreich" bezeichnet. Immerhin hat man sich seitens der USA nun auch zu der Forderung durchgerungen, den seit über 30 Jahren(!) bestehenden Ausnahmezustand in Ägypten "sofort" aufzuheben.

- Abdullah Kamal, der Herausgeber einer regierungsnahen Zeitung, hat über die Demonstrationen gesagt: "Dies sind keine Demonstrationen des Ärgers und der Wut, sondern von Mördern, die das alles zerstören wollen, was anderen wichtig ist." Während der Westen solche Worte nimmt und sie mit den relativ moderaten von anderen Funktionären vergleicht, um dann über "Risse im System" zu berichten, sieht die Opposition eher das alte Spiel "Guter Bulle, böser Bulle" aufgeführt. - Übrigens fordern jetzt Mitarbeiter der Zeitung den Rücktritt von Kamal.

- Ausländische Korrespondenten werden weiter behindert. Sie werden von Soldaten kontrolliert und wenn keine Akkreditierung vorliegt, an der Arbeit behindert. Neue Akkreditierungen werden aber nicht ausgestellt.

- Das Staatsfernsehen schwankt zwischen Ignorieren der Proteste und z.B. einer tränenreichen Inszenierung, in der ein "Insider" berichtet, die Proteste seien von "Ausländern" unterstützt. http://www.youtube.com/watch?v=8slRy1JhLT8 

- Gestern waren Leute auf den Demos, die da noch nie waren. Insbesondere auch Leute, denen es wirtschaftlich verhältnismäßig gut geht. Daneben gab es andere Aktionen. Z.B. haben mehrere hundert Anwälte beim Generalstaatsanwalt eine Petition eingereicht, die fordert, dass die Herkunft des Vermögens von Mubarak untersucht wird. Ein Tabubruch in Ägypten.

- Tweet von Cornel West, eines schwarzen Bürgerrechtlers aus den USA, an die Opposition: "Martin Luther King, Jr. smiles on you from the grave, your courage resurrects his spirit! "

- Letzte Meldungen berichten von schweren Zusammenstößen in der Oase Kharga im Südwesten des Landes (Oasen sehen nicht wie im Film aus, wo nur ein Wasserloch ist und drei Zelte stehen, sondern sind große landwirtschaftlich genutzte Gebiete, in denen gern mal mehrere tausend Leute wohnen oder gar eine Stadt existiert). Die Polizei soll Wasser und Strom abgestellt haben, das Büro der Regierungspartei NDP soll in Flammen stehen, mindestens ein Polizeifahrzeug ebenso. Es wurde von der Polizei scharf geschossen. Mindestens 8 Leute sind schwer verletzt, es gibt (unbestätigte) Meldungen über Tote. Auslöser der Auseinandersetzungen sind ebenso noch unbekannt. Video: http://www.youtube.com/watch?v=XXFGpRfKL-I