21. März 2011

Libyen: Die alte Frau in der Schlange

Vor etwa drei Wochen hatte das Regime jedem Libyer 500 Libysche Dinar (ca. 300 €) "spendiert", um sich beim Volk beliebt zu machen. Da zu der Zeit in Tripolis schon nichts mehr normal war, insbesondere nicht die Preise für Lebensmittel, haben auch viele Menschen das Geld genommen, die dem Regime nicht gerade nahestehen. Das Geld konnte man in jeder Bank abholen. In Libyen und auch in anderen arabischen Länder stehen Männer und Frauen in getrennten Schlangen für Dinge an. Folgendes soll sich dabei in Tripolis zugetragen haben.

Eine alte Frau, etwa Ende 70, stellt sich in die Schlange für die Männer. Nach einigem Zögern ob ihres Alters spricht ein Mann sie an: "Gute Frau, diese Schlange ist für die Männer. Die andere ist für die Frauen." Da antwortete die Alte laut und deutlich: "Nein, die Männer, die sind alle in Benghazi." Sofort wurde es ruhig und niemand wagte es, noch etwas zu sagen. Die Frau blieb in der Schlange und als die Reihe an sie kam, bekam sie ihr Geld und ging.

Zur Ehrenrettung der Männer (und Frauen!) von Tripolis sei gesagt: Sie sind mehrmals auf die Straße gegangen, unbewaffnet. Stets wurde auf sie scharf geschossen. In Tripolis offen gegen das Regime aufzutreten, ist zur Zeit fast immer Selbstmord.

Libyen: Im Nebel des Krieges

Nach Verabschiedung der Resolution 1973 durch den UN-Sicherheitsrat sind nun Mächte in und um Libyen aktiv geworden, die militärisch über ganz andere Möglichkeiten verfügen als das Regime oder gar die Aufständischen. Zwar war Libyen die letzten Wochen das Top-Thema der internationalen Diplomatie, aber nun sind führende westliche Mächte wie die USA, Frankreich und Großbritannien in kriegerische Auseinandersetzungen involviert. Das bedeutet u. a. eine andere Qualität an Information* und Desinformation. Die Propaganda spielt in kriegerischen Auseinandersetzungen eine wesentliche Rolle. Erst recht in einer Gesellschaft, in der Medien eine so bedeutende Rolle spielen. - Sind das nicht Selbstverständlichkeiten? Sicher, aber es ist wichtig, sich dessen immer bewusst zu sein. Allzu oft vergisst man es. Also: Der Nebel des Krieges ist aufgestiegen. Und die Nebelwerfer sind absolute Profis. Aber gerade deshalb soll hier ein Bild der letzten Ereignisse in und um Libyen gezeigt werden.

An dem Einsatz, der sich auf die UN-Resolution beruft, beteiligen sich nach jetzigem Kenntnisstand folgende Länder: USA, Frankreich, Großbritannien, Italien (entgegen ersten Ankündigen auch mit Kampfflugzeugen), Dänemark, Norwegen, Belgien, Spanien, Kanada, Qatar und die Vereinigten Arabischen Emirate. Weitere Länder, hier werden insbesondere Marokko und Jordanien genannt, könnten dazu kommen. Doch Sprecher der USA wollten die Erklärung über die Teilnahme an dem Einsatz auf Wunsch der betroffenen Länder nicht vorwegnehmen. Das wollen sie selber tun. Das ist der Situation, dass hier arabische Länder gegen ein andere arabisches Land militärisch aktiv werden, geschuldet.

Der Angriff am Sonnabend auf Benghazi, der u. a. das Leben von Mohammed Nabbous gekostet hat, wurde scheinbar von 300-400 Soldaten (und wohl auch Söldner) des Regimes durchgeführt. Gleichzeitig wurde eine unbekannte Anzahl von "Schläfern", also sich bisher verdeckt haltende Agenten des Regimes aktiviert. Trotz der schweren Bewaffnung u. a. mit Panzern, war dieser Angriff zum Scheitern verurteilt. Denn eine Stadt mit 700.000 Einwohnern, die sich seit Wochen auf einen Angriff vorbereitet, ist mit solch einer Truppenstärke natürlich nie einzunehmen. Es ist eigentlich kein rationales Motiv für diesen Angriff erkennbar. Bleiben nur zwei irrationale: Entweder ist, wer auch immer den Angriff befahl, einer absoluten Selbstüberschätzung erlegen, oder es handelte sich um Rache. Wie dem auch sei. Knapp 100 Menschen hat es das Leben gekostet, allein auf Seiten der Aufständischen und der Bevölkerung. Seit dem Angriff französischer Kampfflugzeuge auf eine Truppenansammlung in der Nähe von Benghazi ist die größte Bedrohung für die Stadt wohl beseitigt. Trotzdem bleibt die Lage angespannt. Einzelne Zwischenfälle mit mutmaßlichen weiteren "Schläfern" zeugen davon.

Weitere Einsätze von Kampfjets und der Abschuss von über 100 "Tomahak"-Missiles haben nach Angaben des Pentagon zum Ziel gehabt, die Luftverteidigung und die Luftwaffe des Regimes ernsthaft zu beschädigen. Ohne sich in Einzelheiten, die ohnehin nicht bestätigt werden könnten, zu verlieren, kann man davon ausgehen, dass die wesentlichen Ziele der Koalition erreicht wurden bzw. in Kürze werden. Die Luftwaffe des Regimes ist im Prinzip ausgeschaltet, viele Flughäfen werden beschädigt sein und die Luftverteidigung dürfte nicht zu ernsthaften Verlusten auf Seiten der Koalition führen. Trotzdem sind einzelne Abschüsse nicht ausgeschlossen. So ist die Behauptung, ein französischer Jet sei getroffen worden, nicht von vornherein unglaubwürdig. Dass dieser Abschuss von Frankreich bestritten wird, ist auch eine Selbstverständlichkeit in einem (Propaganda-)Krieg.

Kommen wir zu einem heiklen Punkt: die unbeabsichtigte Tötung von Zivilisten bei den Angriffen der Koalition (um das verharmlosende Wort mit "K" zu vermeiden). Natürlich wird es sie geben, wenn es sie nicht schon gegeben hat. Alle bisherige Erfahrung spricht dagegen, dass bei solchen Einsätzen nicht zu tödlichen "Fehlern" kommt. Die Technik ist nicht perfekt. Und Menschen auch nicht. Weder im konkreten Einsatz noch in der Planung noch in der Auswertung von Aufklärungsmaterial etc. pp.  Wer eine Flugverbotszone will, sollte wissen, dass zuerst die Luftabwehr des Gegners ausgeschaltet werden muss. Dabei können unbeteiligte Zivilisten sterben und mit jedem weiteren Einsatz ist dies wahrscheinlicher. (Das ist kein Plädoyer für oder gegen eine Flubverbotszone, sondern nur eine Feststellung.) Das Regime hat nun schon behauptet, dass es dazu gekommen ist. Das ist wahrlich keine Überraschung. Verdächtig ist nur, dass es gleich am ersten Tag zu 48 Toten gekommen sein soll und dass es keinem Journalisten gestattet war, einen der angeblichen Schauplätze oder einen der Verletzten zu besuchen. Trotzdem, es sei noch einmal wiederholt, sollte es niemanden überraschen, wenn es nachweisbar zu zivilen Opfern kommt. – Auch das eine Selbstverständlichkeit? Nun, Amr Moussa, der Generalsekretär der Arabischen Liga, hat gesagt, die Liga wollte eine Flugverbotszone und nicht weitere zivile Opfer. Der Mann ist seit Jahrzehnten in der internationalen Politik tätig, er sollte wissen, was er sagt. Seine Stellungnahme kann aber nur so übersetzt werden: "Wasch mir den Pelz, aber mach' mich nicht nass." Um es auf den Punkt zu bringen: Der Mann ist ein Heuchler.

Manchmal gibt es aber auch in einem Propagandakrieg erhellende Momente. So der Auftritt des libyschen "Parlaments"-Präsidenten gestern Abend vor der internationalen Presse. Die beiden Höhepunkte in sinngemäßen Zitaten: "Der Angriff der Kreuzfahrer wird uns nicht davon abhalten, weiter gegen die Milizen von Al-Qaida in Nordafrika zu kämpfen." und: "Wir halten den Waffenstillstand ein, die Kämpfe in Benghazi dienten nur dazu, die Stadt von Islamisten zu säubern". Merke: Die Kreuzfahrer haben sich mit Al-Qaida verschworen und Kämpfe sind kein Verstoß gegen einen Waffenstillstand.

Zum Schluss noch zur konkreten Lage in zwei Städten, die offensichtlich momentan am meisten zu leiden haben. Az Zintan und Misratah sehen sich mit heftigen Angriffen des Regimes konfrontiert. Beide stehen unter schweren Beschuss mit Panzern und Artillerie. Während letzte Meldungen aus Az Zintan darauf hindeuten, dass die Angriffe abgewehrt wurden, ist die Lage in Misratah unverändert. Die Stadt liegt in unmittelbarer Nähe des Machtbereichs des Regimes, so dass immer neuer Nachschub eintreffen kann. Zur Erinnerung: Misratah ist mit etwa 300.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt des Landes.

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*Manche Sender überfluten ihre Zuseher mit militärischen Informationen in Kriegszeiten. Doch politisch bedeuten diese meist wenig. Aber der geneigte Zuschauer fühlt sich "informiert". Nachrichten sind eine Ware und jeder Marketingmensch weiß, dass Gefühle beim Verkauf eine große Rolle spielen.