15. Juni 2012

Zum Massaker von Hula

Es gibt ernstzunehmende Hinweise, dass das Massaker von Hula nicht von den Regierungstruppen verübt wurde, sondern von sunnitischen Extremisten unter dem Schutz einer Einheit der FSA. Aussagen von Bewohnern der Gegend, die das Regime verantwortlich gemacht haben, sollen von Billigern bzw. Beteiligten des Massakers sein. Danach ist im wesentlichen ein alawitischer Clan ausgelöscht worden, weil er sich weigerte, der Opposition anzuschließen. Ob diese Version nun die richtige ist, lässt sich auch nicht mit Gewissheit sagen. Aber sie scheint mir nicht komplett unglaubwürdig. Wesentliche Quelle für diese Version ist die einer Assad-Unterstützung gänzlich unverdächtige FAZ: http://www.faz.net/aktuell/politik/arabische-welt/syrien-eine-ausloeschung-11784434.html

Es gibt also Zweifel an der allgemeinen Darstellung. Dass die meisten Medien das Regime für verantwortlich hielt, war u. a. der Reflex darauf, dass das Regime stereotyp "Al-Qaida" als Täter genannt hat. Was Schwachsinn ist. Dazu kommt die Tatsache, dass dem Regime ein solches Massaker zuzutrauen ist, da seine bisherigen Handlungen einem Krieg gegen das Volk gleichkommt, wie unlängst erst wieder ein Bericht von Amnesty International festgestellt hat: http://www.amnestyusa.org/research/reports/deadly-reprisals-deliberate-killings-and-other-abuses-by-syria-s-armed-forces

Nichtsdestotrotz mehren sich die Meldungen von Kriegsverbrechen, die von Regimegegner begangen werden. Auch Akte sektiererischer Gewalt sollen zunehmen. Es ist aber nicht "die" Opposition als Ganzes, die dessen verdächtig ist. Weiterhin gibt es in zahlreichen Städten und Orten lokale Gruppen, die alle Religionsgruppen in sich vereinen und die - unfassbar, aber wahr - weiterhin im wesentlichen auf gewaltfreie oder rein defensive Aktionen setzen. Daneben gibt es Einheiten, die sich unter dem Schirm der FSA versammeln. Wobei die FSA weiterhin keine einheitlichen Kommandostrukturen besitzt, sondern fast jede Einheit autonom agiert; von gelegentliche Absprachen mit Nachbareinheiten mal abgesehen. Daneben haben sich Milizen gebildet, die völlig unabhängig agieren. Einige von diesen sind sunnitische Extremisten, teilweise finanziert durch Saudi-Arabien und Qatar. Wie die Kräfteverhältnisse zwischen den unterschiedlichen Gruppierungen der Opposition aussehen, lässt sich kaum beurteilen. Aber die Bewaffneten haben wohl in letzter Zeit an Einfluss gewonnen, dabei hat sicher die fortwährenden Gewalt des Regimes die Hauptrolle gespielt.

Und das Regime hat von Anfang an bewusst die Spannungen zwischen den Religionsgruppen geschürt. Es hat den Aufstand als sunnitischen Terrorismus dargestellt, um die anderen Religionsgruppen an sich zu binden. Insbesondere den Alawiten (der Assad-Clan ist bekanntermaßen alawitisch) wurde eingeredet, eine Machtübernahme der sunnitischen Mehrheit würde zu landesweiten Pogromen gegen sie führen. Das Massaker von Hula könnte also zum Teil eine selbsterfüllenden Prophezeiung des Regime sein. Das entbindet niemanden von der persönlichen Verantwortung für dieses Massaker - wer immer es nun angerichtet hat. Aber die Verhältnisse, die zu solchen Pogromen führen, hat das Regime bewusst in Kauf genommen und geschürt, um an der Macht zu bleiben. Dazu kamen z. B. mit Parolen wie "Es gibt keinen Gott außer Bashar" bewusste Provokationen der Sunniten. Auch wurden sunnitische Moscheen beschossen und zerstört.

Wird der Bürgerkrieg in Syrien also (auch) zu einem Krieg der Konfessionen? Wird aus Syrien ein zweites Irak, in dem es in den Städten keine "gemischten" Viertel mehr gibt? Es gibt Unterschiede zur Situation im Irak. Es gibt keine Besatzungsmacht. Der Wunsch nach einem Sturz des Assad-Regimes kam von Innen. Mit den lokalen Komitees vor Ort gibt es so etwas wie den Ansatz einer Zivilgesellschaft, auch wenn die wesentlich religiöser geprägt ist als wir uns das wünschen würden. Doch je länger der Bürgerkrieg dauert, desto einflussreicher werden die bewaffneten Gruppen werden. Aber auch diese sind nicht einer einheitlichen politischen Richtung zuzuordnen. Zur Erinnerung: Die ersten Einheiten der FSA waren einfach Soldaten, die nicht auf das Volk schießen wollten und im wesentlichen sich selbst verteidigt haben und dann langsam dazu übergingen, z. B. Demonstrationen zu schützen. Auch der Übergang zu den offensiven Operationen war fließend. Inwieweit Einheiten der FSA mit bewaffneten sunnitischen Extremisten kooperieren und inwieweit sie deren Ziele teilen oder für die Zeit des Kampfes gegen das Regime in Kauf nehmen, lässt sich schwer sagen. Irgendeine Diskussion darüber findet nicht statt. Zu sehr scheint man im Kampf gegen das Regime (zwangs-)verbündet zu sein. Auch von den Lokalen Koordinationskomittes (http://www.lccsyria.org) wird die sektiererische Gewalt nicht angesprochen. Der Druck, unter dem die Opposition angesichts des Vorgehens des Regime steht, scheint zu groß zu sein, um eine solche Diskussion ernsthaft zu eröffnen. Das ist angesichts der Situation in Syrien verständlich, könnte sich aber als tödlich für die Ziele der syrischen Aufständischen erweisen.

24. November 2011

Ägypten: Ein Brief zu den aktuellen Ereignissen

An alle,

ich schreibe euch, um euch die momentane Situation in Ägypten zu schildern, da ich nicht sicher bin, wie genau die Medien darüber berichten. Letzten Freitag gab es eine große Demonstration am Tahrirplatz, die forderte, dass die Militärregierung beendet wird, dass die Militärgerichtsbarkeit für Zivilisten beendet wird (mehr als 12.000 Zivilisten wurden an außerordentliche Militärtribunale verwiesen) und dass man sich den "übergeordneten konstitutionellen Prinzipien"* widersetzt. Es war eine große Anzahl von Leuten aus unterschiedlichen Zusammenhängen, die an der Demonstration teilnahmen und die meisten von ihnen verließen den Platz am Abend.

Unabhängig davon haben die Verletzten der Revolution und Familien der Getöteten seit Monaten Sit-Ins an verschiedenen Orten organisiert, darunter auch am Tahrir-Platz, und verlangen ihre Behandlungskosten zu erstatten und Entschädigungszahlungen zu leisten. Am Samstag, dem 19. November, vertrieben Sicherheitskräfte die Verletzten und Angehörigen der Getöteten unter Gewaltanwendung, was die Menschen dazu veranlasste, zum Tahrir-Platz zurückzugehen und sie zu unterstützen (wie es am 28. & 29. Juni geschah). Viele haben behauptet, dies seien die Islamisten, die revoltierten, um Macht zu gewinnen, was absolut falsch ist. Was gerade im Moment in Ägypten geschieht, ist, dass das Volk gegen Polizeigewalt und Militärherrschaft revoltiert.

Die Sicherheitskräfte benutzen exzessiv verschiedene Arten von Tränengas, Gummigeschossen, Schrot und scharfer Munition gegen Demonstranten bis zu diesem Moment. Und sie werden mit jedem Tag gewalttätiger, was zum Tod von 30 Personen geführt hat und mehr als 1700 Verletzte hinterlassen hat (offizielle Zahlen des Gesundheitsministeriums), einschließlich vieler, deren Augen und obere Körperpartien unter Beschuss genommen wurden. Menschen werden willkürlich und gewaltsam verhaftet, auch Ärzte, die den Verletzten helfen, und Journalisten, die über die Ereignisse berichten. provisorische Lazarette werden angegriffen, um Ärzte davon abzuhalten, den Verletzten zu helfen.

Während die Gewalt der Sicherheitskräfte gegen unbewaffnete Demonstranten nun seit fünf Tagen andauert, kommen mehr Menschen zur Unterstützung in mehr als 5 Städten hinzu. Das, was uns am meisten Schaden zufügen würde, wäre, dies als Kampf um die Macht zwischen religiösen/politischen Gruppen und der Armee darzustellen oder es zu vereinfachen, dass die Menschen in den Strassen Krawallmacher seien und versuchten, das Land zu zerstören um Chaos zu verursachen. Wir sind alle auf die Strasse gegangen, um gegen Polizeigewalt und Militarismus zu kämpfen.

Unterstützt uns, indem ihr die Wahrheit über die Situation verbreitet und die Desinformation korrigiert, die verbreitet wird, seit Mubarak abgetreten ist.

Videos: http://youtu.be/zJ7FHUtxePw - http://youtu.be/54-1qNeef0E - http://youtu.be/O94sWWDc8Ig
Images: http://goo.gl/OkNPL - http://goo.gl/qpA6A - http://goo.gl/Qxm2H - http://goo.gl/wK4Ia - http://goo.gl/EhjrA - http://goo.gl/edRSw - http://goo.gl/Nw3Iu

Erklärungen von Menschenrechtsgruppen:
- Gemeinsame Erklärung ägyptischer Gruppen: http://goo.gl/UzEqC [En]
- Human Rights Watch http://goo.gl/zq5nR [En]

Was wir verlangen, ist, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen,


* In diesen Prinzipien, denen eine neue Verfassung folgen soll, wird die "besondere Rolle" des Militärs festgeschrieben. Darüber hinaus wird u. a. festgelegt, dass nicht das Parlament das Militärbudget diskutieren und festlegen soll, sondern das Militär selber, und sich der Militärrat ein Vetorecht bezüglich aller Entscheidungen, die das Militär betreffen, vorbehält. Zudem soll der Verfassungsentwurf von einem 100-köpfigen Verfassungsrat erarbeitet werden, von denen 80 Mitglieder vom Militärrat bestimmt werden sollen. Und nur 20 vom bis dahin gewählten Parlament. Die Demonstranten am Freitag forderten den Rücktritt des Militärrates und die Übergabe aller(!) Macht an eine zivile Übergangsregierung.

30. Oktober 2011

Libyen: Mythos und Realität unter Gaddafi

Es kursiert so einiges über Libyen unter Gaddafi im Internet. Vor allem von den Gaddafi-Fans, die aber überwiegend nicht in Libyen leben. Mag sein, dass hier Wunschdenken am Werke ist. Aber das Gaddafi-Regime war nun mal keine anti-imperialistische oder gar sozialistische Volksherrschaft. Auch, wenn das viele gerne glauben.

Hier sollen ein paar Mythen, die auf Pro-Gaddafi-Webseiten und -Stellungnahmen immer wieder angeführt werden, behandelt und mit der Realität in Libyen verglichen werden.

Mythos: Strom war für libysche Bürger umsonst.
Unwahr.
Die Stromversorgung war schlecht, auch in der Hauptstadt. Jedenfalls nicht der Stand, den man von einem entwickelten Land erwarten würde. Auch waren nicht alle Regionen mit Strom versorgt. Es gab Stromzähler und wer seine Rechnung nicht bezahlte, dem wurde der Strom abgestellt.

Mythos: Es gab zinsfreie Darlehen.
Unwahr
. Getreu dem islamischen Zinsverbot nannte man es nur nicht "Zinsen", sondern "Bearbeitungsgebühr". Ähnliches ist z. B. auch in Saudi-Arabien üblich.

Mythos: Alle neuen Ehepaare erhielten 60.000 Dinar (50.000 $) als Startguthaben
Unwahr.
Und ein gängiger Witz in Libyen. Es wurde wohl ein Gesetz diesbezüglich verabschiedet, aber das wurde nie umgesetzt.

Mythos: Bildung und Gesundheitsversorgung waren umsonst.
Umsonst, aber auch völlig unzureichend.
Die meisten Krankenhäuser waren auf dem Stand der Technik von vor 30 Jahren. Wer etwas Ernsthaftes hatte und sich es leisten konnte, ging nach Tunesien oder Ägypten, um sich dort behandeln zu lassen. In der Schule stand jedes Jahr das "Grüne Buch", die "Universaltheorie" Gaddafis auf dem Stundenplan, Englisch war abgeschafft worden.

Mythos: Wer ein Auto kaufte, bekam die Hälfte von Staat bezuschusst. Benzin war sehr günstig.
Der Zuschuss stimmt nicht.
Benzin war günstig (immerhin, in einem Erdölland). Aber man war auch auf das Auto angewiesen, da es so gut wie keine öffentlichen Verkehrsmittel gab.

Mythos: Wenn Libyer nach der Ausbildung keinen Arbeitsplatz fanden, bekamen sie das ihrer Ausbildung entsprechende Gehalt als Arbeitslosengeld.
Unwahr.
Selbst normale Löhne wurden oft monatelang nicht ausgezahlt. Eine Arbeitslosenunterstützung gab es nicht.

Mythos: Ein Teil der Erdöleinnahmen kam Libyern direkt als Einzahlung auf ihr Konto zugute.
Völliger Blödsinn.
Niemand in Libyen weiß, woher dieses Gerücht stammt.

Mythos: Eine Mutter bekam bei der Geburt eines Kindes etwa 5.000 $.
Unwahr.
Es gab ein Kindergeld in Höhe von 15-20 Dinar im Monat, also unter 20 $.

Mythos: 25% der Libyer haben einen Universitätsabschluss.
Stimmt sogar.
Nur waren die Universitäten hoffnungslos überlastet und fast jeder bekam einen Abschluss. Viel wert war der nicht: Tausende Akademiker waren arbeitslos oder weit unter ihrer Qualifikation beschäftigt.

20. Oktober 2011

Libyen: Das Ende des Tyrannen

Das Ende des Tyrannen ist ein weiterer Triumph des Mannes, der den arabischen Aufstand ausglöst hat.

28. August 2011

Libyen: Eine Woche in Tripolis

Seit einer Woche ist Tripolis in der Hand der Aufständischen. Nach der Erhebung der Aufständischen in der Stadt und dem Einmarsch weiterer Kämpfer aus anderen Teilen Libyens wurden von der Gaddafi-Festung und -Residenz Bab Al-Aziziya aus die Wohngebiete in der Umgebung mit Mörsern und Granaten beschossen. Am Dienstag wurde ein Angriff auf den wichtigsten Stützpunkt des Regimes, der diesem in der Hauptstadt verblieben war, gewagt. Und tatsächlich wurde dieses Symbol des verhassten Regimes gestürmt. Nach Stunden der Belagerung war es ihnen gelungen, in das Gelände einzudringen. Kaum waren die Kämpfer auf dem Gelände, brach der Widerstand dann schnell zusammen. Man kann schlecht übertreiben, was das für die Libyer bedeutet. Es ist ähnlich zu bewerten wie der Sturm auf die Bastille während der französischen Revolution oder auf den Zarenpalast in der russischen. Schließlich standen die Aufständischen buchstäblich im Schlafzimmer des Diktators.

Bis einschließlich Freitag kam es dann noch zu schweren Gefechten, v. a. im Stadtteil Abu Salim, der südlich von Bab Al-Aziziya liegt. Auch der von den Aufständischen besetzte internaltionale Flughafen wurde von Gaddafi-treuen Truppen immer wieder angegriffen. Seit Sonnabend ist es im Wesentlichen ruhig in Tripolis. Es besteht also die Hoffnung, dass der vorhergesagte wochenlange Kampf um Tripolis nach einer Woche vorüber und der Hauptstadt ein Schicksal wie dem schwer zerstörten Misratah erspart geblieben ist. Trotzdem hat die Befreiung der Stadt Hunderten das Leben gekostet. Genaue Zahlen stehen noch nicht fest.

Mit der Durchsuchung ehemaliger Geheimdienstbüros, Kasernen, Gefängnissen und anderer Orte kommen immer mehr Leichen im Keller des Regimes zum Vorschein. Und das ist wörtlich zu verstehen. Bei den Gefechten um Abu Salim wurde auch das dort befindliche berühmt-berüchtigte Gefängnis befreit. Etwa 2.500 Gefangene wurden angetroffen. Berichte über Folterungen und andere Verbrechen bestätigen leider das, was von vielen befürchtet war: Gnade kannte das Regime im Umgang mit seinen Gegnern nicht. Einige Gefangene sind seit Jahren ohne Anklage inhaftiert, einer seit 18 Jahren(!). Andere können zurzeit nicht mal sprechen. Es scheint auch, als seien in den letzten Tagen mindestens 140 Gefangene getötet worden. Und auch an anderen Orten werden Leichen gefunden: 17 in einem Geheimdienstbüro, 32 in Bab Al-Azziya, 170 in einem Militärstützpunkt usw.  Heute wurde bekanntgegeben, dass zwar etwa 11.000 Gefangene in Tripolis befreit wurden, aber noch 46.000(!) vermisst werden, die zuletzt in den Händen des alten Regimes waren.

In vielen Medien ist davon die Rede, dass es Verbrechen bzw. "Massaker" auf beiden Seiten gäbe. Von "beiden Seiten" ist die Rede, weil Reuters und Al Jazeera Arabiya übereinstimmend berichteten, in einem Feldlazarett in Tripolis seien mehr als 30 Leichen gefunden worden, die offensichtlich dem Regime angehört haben und getötet wurden, zwei davon mit gefesselten Händen auf dem Rücken, einer noch mit der Infusionsnadel im Arm.

Obwohl dieses Verbrechen weit davon entfernt ist, aufgeklärt zu sein, sprechen die Indizien für Aufständische als Täter. Und es sollte keinen überraschen, wenn dies so wäre. Auf Seiten der Opposition gegen das Regime gibt es viele Gründe, mehr als nur verbittert zu sein: über 40 Jahre Unterdrückung, systematische Verfolgungen, Folter, der massive Einsatz von Schusswaffen gegen friedliche Demonstranten, der Beschuss von Wohngebieten mit schwerer Artillerie, Tötungen ihrer gefangenen Kämpfer etc. pp. Dessen ungeachtet ist die Tötung wehrloser Gefangener nach internationalen Konventionen verboten und gilt als Kriegsverbrechen. Und das mit Recht.

Aber die Formulierung "Verbrechen auf beiden Seiten" impliziert eine Gleichstellung, die so nicht gegeben ist. Erstens ist das Ausmaß der Verbrechen des alten Regimes eine ganz andere Dimension. Wenn es denn Aufständische waren, wäre es wahrscheinlich nicht das erste Verbrechen dieser Art (so soll es bei den Kämpfen im Nafusa-Gebirge zu vereinzelten Tötungen Gefangener gekommen sein, ebenso bei den Kämpfen in Misrata), aber diese kann man bisher noch als "sporadisch" bezeichnen. Ebenso war und ist z. B. die Kriegsführung der Aufständischen eine völlig andere. Viele Operationen wurden abgebrochen, weil sie Zivilisten nicht gefährden wollten. Und zweitens, und das ist das Wesentliche, ist die erklärte Politik auf Seiten der jeweiligen Führung eine völlig gegensätzliche. Mustafa Jaleel, der Vorsitzende des Übergangsrates, appelliert nicht erst seit dem Einmarsch in Tripolis an die Kämpfer, nicht Rache zu üben und die Menschenrechte auch der gefangenen Regimetreuen zu achten, aber seit dem Einmarsch in Tripolis tut er dies täglich. Auf der anderen Seite steht das Regime mit einem Gaddafi an der Spitze der seine Gegner als "Ratten" bezeichnet und seine Anhänger, zuletzt auch Frauen und Kinder, dazu aufruft, Tripolis von den Aufständischen zu "säubern" und seine Gegner zu vernichten. An der Integrität von Jaleel bestehen keine Zweifel. Der Mann hat sich auch als Justizminister unter Gaddafi für Menschrechte eingesetzt und wurde schon Jahre vor dem Aufstand in Menschenrechtsberichten von Human Right Watch und Amnesty International lobend erwähnt. Über die moralische Integrität eines Muammar Gaddafi hingegen braucht man gar nicht nachzudenken. Zusammengefasst gesagt: Das Regime spricht seinen Gegnern jegliche Rechte ab und will systematisch Verbrechen begehen. Der Übergangsrat plädiert für die Einhaltung der Menschenrechte und Verbrechen werden bisher nur sporadisch von Leuten begangen, die zwar im Zusammenhang mit dem Übergangsrat kämpfen, aber nicht unter dessen Kontrolle stehen.

Westlich von Tripolis scheint nach Gefechten unter der Woche die wichtige Straße nach Tunesien nun unter der Kontrolle der Aufständischen zu stehen, einschließlich des Grenzüberganges. Mittlerweile soll der Verkehr wieder zu fließen beginnen.

Im Osten verbleibt den Kräften des alten Regimes nur noch Sirte. Diese ist schwer befestigt und stark besetzt. Seit Tagen gibt es Verhandlungen mit Vertretern der Stadt seitens des Übergangsrates. Daneben sind die Aufständischen bis nach Ban Jawad vorgestoßen.

Mittlerweile ist ein Teil des Übergangsrates nach Tripolis gezogen und hat die Arbeit aufgenommen. Größte Probleme sind die Wasserversorgung, die Stromversorgung und damit einhergehend die Versorgung der Verletzten.

Es wurde zudem ein Militärkommandant für Tripolis ernannt, ein ehemaliges Mitglied der LIFG, was bei einigen westlichen Kommentatoren Besorgnis erregte. War die LIFG doch mal mit Al-Qaida verbündet. Auch kehrt die normale Polizei, die als relativ unbelastet gilt, auf die Straßen zurück.

Am Sonnabend tagte die Arabische Liga in Kairo. Als Vertreter Libyens wurde der Vorsitzende des Übergangsrates, Mustafa Jaleel, mit stehenden Ovationen begrüßt. Die Flagge des Gaddafi-Regimes wurde durch die vorherige ersetzt. Damit hat die erste internationale Organisation den Machtwechsel in Libyen formal anerkannt.

21. August 2011

Libyen: Die Aufständischen haben gesiegt!

Mit dem Einmarsch ins Zentrum von Tripolis haben die Aufständischen die Hauptstadt im wesentlichen befreit. Nachdem gestern Abend der Aufstand in Tripolis selbst begann und v. a. im Osten der Stadt ganze Stadtteile dem Regime entglitten, stießen heute die Aufständischen aus Az Zawiyah in Richtung der Hauptstadt vor. In der Nähe der Hauptkaserne der Khamis-Brigade, etwa 27 km vor dem Zentrum, wurden sie stundenlang aufgehalten. Nach Angriffen der NATO auf die Kaserne konnte diese erobert werden. Dadurch fielen ihnen auch genügend Waffen in die Hände. Auf ihrem weiteren Weg nach Tripolis trafen sie kaum noch auf Widerstand. Unterdessen haben auch die Kämpfer im Osten, unterstützt von etwa 200 aus Misratah, die per Schiff(!) kamen, den Militärflughafen Mitiga erobert. Mehrere Gefängnisse wurden gestern und heute befreit. Viele der Gefangenen schlossen sich sofort den Kämpfern an. Die Präsidentengarde, die für die Sicherheit des Gaddafi-Clans in Tripolis zuständig war, hat kapituliert. Es gibt noch vereinzelte Kämpfe in Tripolis, aber in weiten Teilen feiern die Bewohner der Hauptstadt den Einmarsch der Freiheitskämpfer.

Damit steht fest:
Das libysche Volk hat sich vom Gaddafi-Regime befreit!
Herzlichen Glückwunsch!

15. August 2011

Libyen: Ist die Wende zum Sieg der Aufständischen erreicht?

Seit Sonnabend überschlagen sich die Ereignisse in Libyen. Die Aufständischen drangen gelichzeitig in zwei Städte ein, denen Schlüsselrollen zukommen: Gharyan und Az Zawiya. Gharyan ist deshalb wichtig, weil es erstens die größte Stadt des Nafusa-Gebirges ist und zweitens durch die Stadt die Hauptnachschubroute aus dem Süden nach Tripolis verläuft. Über diese Route kamen v. a. Waffen und Söldner, aber auch Rohöl. Az Zawiya ist mit 200.000 Einwohnern eine der größeren Städte in Libyen und liegt auf der Route zwischen Tunesien und Tripolis. Über diese Route kam die meiste Versorgung für die Hauptstadt, v. a. Benzin und Lebensmittel. Darüber hinaus ist Az Zawiyah ein Symbol des Widerstandes gegen das Gaddafi-Regime, denn die Stadt wurde nach wochenlangen Kämpfen vom Regime zurückerobert, nachdem sie komplett in den Händen der Aufständischen war. Zudem ist sie nur 50 km von Tripolis entfernt. Der Vorstoß nach Az Zawiyah erfolgte sehr schnell, so schnell, dass selbst die Aufständischen überrascht waren. Sie wollten erst heute in der Stadt sein. Dadurch ist es auch zu einem Unglück gekommen: NATO-Flugzeuge haben einen Panzer angegriffen, der von den Aufständischen erbeutet war. So nah an Az Zawiyah hatten sie keine Freiheitskämpfer erwartet. Vier Kämpfer sind dabei umgekommen.

In beiden Städten haben sich die Aufständischen nun festgesetzt und kontrollieren nach eigenen Angaben ein Großteil des Stadtgebietes. In beiden Städten sind aber noch Gaddafi-treue Truppen und v. a. Scharfschützen auf hohen Gebäuden stellen ein großes Problem dar. In Gharyan soll die Kaserne erobert worden sein. Damit wäre dort das größte Problem gelöst: Waffen und Munition, denn an Kämpfern mangelt es den Aufständischen meist nicht. Diese strömen nun mittlerweile aus dem Nafusa-Gebirge v. a. nach Az Zawiyah. Im Nafusa-Gebirge wurden Leute aus Az Zawiyah und Tripolis ausgebildet, die dorthin geflohen waren. Mehrere Hundert bis fünf Tausend sollen es sein, die jetzt ihre Heimatstädte befreien wollen.

Auch Sorman sollen die Aufständischen mittlerweile die Kontrolle haben. Hier wurde ein Gefängnis gestürmt und Tausende befreit. Sorman liegt ebenfalls auf der Route Tunesien-Tripolis und zwar westlich von Az Zawiyah. Zudem soll es am tunesichen Grenzübergang zu Kämpfen gekommen sein, zeitweise war der Übergang wohl auch in den Händen der Aufständischen.

Man kann nur hoffen, dass es stimmt, was vor kurzem ein NATO-Sprecher sagte, dass die Truppen von Gaddafi nicht mehr zu offensiven Operationen in der Lage sind. Im Häuserkampf sind die Aufständischen überlegen, das haben sie mehrfach bewiesen. Trotzdem kann es noch zu heftigen Kämpfen kommen und v. a. Az Zawiyah wird sicher unter Artillerie- und sonsitgem Beschuss zu leiden haben. Aber von einem militärischen Patt kann nicht mehr die Rede sein. Das Regime in Tripolis ist nun auf dem Land von drei Seiten bedroht. Nur noch eine Route nach Süden ist offen und die ist nicht die beste. Die Küstenstraße nach Tunesien dürfte den Aufständischen nicht mehr zu nehmen sein.

Entsprechend sind die Reaktionen des Regimes. Zuerst wurde jeder Erfolg der Aufständischen geleugnet. Gestern nun drohte ein Sprecher im Staatsfernsehen mit der "Auslöschung" sämtlicher Orte im Nafusa-Gebirge, wenn die Kämpfer sich nicht zurückziehen würden. Anders reagierte der Innenminister Nasser al-Mabruk Abdullah. Er traf zusammen mit neun Familienmitgliedern in Kairo ein. Er reiste mit einem Touristenvisum nach Ägypten. An seiner Stelle würde ich auch erstmal Urlaub machen.

14. August 2011

Syrien: Regime weiter auf Kriegskurs gegen das eigene Volk

Ungeachtet internationaler Appelle führt das syrische Regime weiter Krieg gegen das eigene Volk. Beim Besuch des türkischen Außenministers machte Assad klar, dass er an eine Eindämmung der Gewalt nicht mal ansatzweise denkt. "Wir werden die terroristischen Gruppen weiter verfolgen". Und auf Vorhaltungen, dass dies die Beziehungen zur Türkei und anderen Nachbarn Syriens belastet: "Wenn Sie Krieg wollen, können Sie ihn haben."

Im Norden des Landes wurden weitere kleinere Städte vom Militär besetzt. Es sieht so aus, als wolle man eine protestfreie "Pufferzone" an der Grenze zur Türkei schaffen. Dabei werden Mittel eingesetzt, die als "Politik der verbannten Erde" bezeichnet werden kann: Olivenhaine und Felder werden angezündet, Häuser ebenso, Autos und die in Syrien häufig zu sehenden Motorräder werden von Panzern zerstört. Weiterer Schwerpunkt sind die Vorstädte von Damaskus. Und hier hat das Regime alle Hände voll zu tun, denn jede Vorstadt ist mittlerweile eine Hochburg der Opposition.

Seit Sonnabend nun wird das Stadtviertel Ramel in Latakia von Panzern beschossen, seit heute auch mit Schiffen von der See aus. Klarer kann das Regime nicht handeln. Es behandelt das Volk wie einen Feind und verbreitet nur noch Terror.

Seit Beginn des Aufstandes behauptet das Regime, es handele sich bei den "Aufrühren" um "Salafisten" (sunnitische Extremisten). Bei der religiösen Vielfalt Syriens soll hier die Furcht vor einer "Irakisierung", sprich der Spaltung des Landes nach Religionen, geschürt werden. Wie aktiv das Regime die religiösen Spannungen selber anheizt, zeigt sich in u. a. Deir Ezzor. Hier wurde gezielt eine Moschee beschossen.

Der Beschuss

Die Wirkung

Nur zur Erinnerung: Es ist Ramadan, der Fastenmonat. In dieser Zeit ist eine solche Zerstörung besonders schändlich in den Augen moslemischer Gläubiger. Dazu passt, dass in Hama die Regimekräfte Graffitis hinterlassen haben wie "Bashar ist Gott und Maher ist sein Prophet". Maher ist der Bruder von Bashar und der "Mann fürs Grobe", Anführer der Präsidentengarde und der berüchtigten 4. Division der syrischen Armee, die besonders loyal und brutal ist. Ein passender "Prophet" für den Schlächter Bashar.

7. August 2011

Syrien: Über 500 Tote in der ersten Woche des Ramadan

Nach dem Einmarsch der Armee und der Geheimdienste letzten Sonntag in Hama hat das Regime die Straßen von Hama unter Kontrolle. Die Menschen trauen sich einfach nicht auf die Straße, u. a. wegen der Scharfschützen, die an zentralen Stellen positioniert sind. Die humanitäre Situation in Hama ist dramatisch. Wie zuvor in anderen Städten, die vom Regime überfallen wurden, sind Kommunikationswege, Strom- und Wasserversorgung teilweise oder ganz unterbrochen. Die Stadt ist vollständig abgeriegelt, so dass auch keine Lebensmittel hinein kommen. Krankenhäuser wurden besetzt und teilweise zerstört. Und das in einer Situation, in der es zahlreiche Schwerverletzte gibt. Ärzte haben deshalb provisorische Feldlazarette eingerichtet, weil sie in ihren Krankenhäusern nicht mehr arbeiten können. Aber auch diese werden angegriffen. Ein geflohener Bewohner berichtete am Freitag, dass die Zahl der Getöteten seit der Besetzung über 300 beträgt. Am Sonnabend zeigte das syrische Staatsfernsehen Bilder aus Hama. Obwohl sie zeigen sollten, das Regime hätte alles unter Kontrolle, war auf den Straßen kein normales Leben zu sehen, sondern eine Geisterstadt.

Bewohner von Deir Ezzor schwören den Widerstand friedlich fortzusetzen.

Heute nun ist das Regime in Deir Ezzor einmarschiert, nachdem die Stadt eine Woche lang belagert wurde. Videos zeigen Rauch über der Stadt und es ist Maschinengewehrfeuer zu hören. Erste Berichte sprechen von mindestens 38 Toten bisher.

Aber so wie Hama und andere Städte während der Besetzung von Homs für die Stadt demonstriert hatten, demonstrieren nun die Menschen in Homs, Idlib und anderen Städten für Hama. Die ganze Woche kam es landesweit nach dem Iftar (Fastenbrechen) am Abend zu Demonstrationen und Kundgebungen. Auch hier kam es täglich zu Toten.

In den Bildern des Staatsfernsehens aus Hama waren auch vereinzelt Bewaffnete zu sehen. Ob diese zur Opposition gehören, lässt sich anhand der Bilder nicht ausmachen. In einem Statement der "Bewegung der Freien Offiziere" wird behauptet, dass sie eine friedliche Demonstration am Donnerstag, den 4. August, in Khan Shaykhun, die von Assad-treuen Milizen und Geheimdiensten angegriffen wurde, verteidigt und dabei 31 der Angreifer getötet haben. Angesichts der Massaker, die das syrische Regime verübt, ist bewaffneter Widerstand nicht auszuschließen. Aber von einem allgemeinen und systematischen Vorgehen dieser Art kann nicht im Geringsten die Rede sein. Gerechtfertigt wäre es, aber noch ist der syrische Aufstand im Wesentlichen friedlich – jedenfalls von Seiten der Opposition.

31. Juli 2011

Syrien: Vor dem Ramadan schlägt das Regime zu

Die Lokalen Koordinations-Komitees hatten für den Fastenmonat Ramadan die Ausweitung der Proteste angekündigt. Die Antwort des Regimes: Am Vorabend des Ramadan schlägt es erbarmungslos zu. In mehreren Vorstädten von Damaskus, aber vor allem in Deir Ezzor und in Hama rollen Panzer und Soldaten schießen wahllos auf die Menschen.

In Deir Ezzor gab es die letzten Tage schwere Auseinandersetzungen. Hier scheint es zu nicht unwesentlichen Desertierungen seitens eingesetzter Truppen gekommen sein, die sich auf ihren Auftrag, das syrische Volk zu schützen, besonnen haben. Am Freitag mussten sich die Schergen des Regimes aus Deir Ezzor zurückziehen. Nun folgt der Gegenschlag. Ein lokaler Scheich soll entführt worden sein. Sein Stamm fordert die ultimative Freilassung bis heute abend 17.00 Uhr, sonst würde man nicht friedlich bleiben. In der Region scheinen Waffen unter den Menschen verbreitet zu sein. Wiewohl der Widerstand gegen das Assad-Regime bis vor kurzem auch hier friedlich war.

In Hama, das die letzten zwei Monate vollständig in der Hand der Opposition war, sind Panzer aus vier Richtungen in das Zentrum der Stadt vorgestoßen. Maschinengewehrfeuer schießt auf alles, was sich auf den Straßen bewegt. Auch aus den Panzern wird geschossen, u. a. auf Wohnhäuser und Moscheen. Bisher ist von fast Hundert Toten und Hunderten an Verletzten allein in Hama die Rede.

Das Regime will offensichtlich den Widerstand kurz vor dem Ramadan endgültig brechen, koste es, was es wolle. Es spricht von einer Operation zur "Befreiung" Hamas aus der Hand von "Moslembrüdern, Salafisten, bewaffneten Banden" und – das Schreckgespenst darf natürlich nicht fehlen – "Al Qaida". Wobei die Staatspropaganda mal die einen, mal die anderen nennt. Aber den Willen, "Chaos und Terror" in Hama, sprich den Verlust der Kontrolle des Regimes in der Stadt, zu beenden, sollte man nicht unterschätzen. Schon jetzt wird in Syrien vom "Ramadan-Massaker" gesprochen.

Als Antwort auf das Vorgehen des Regimes gehen die Menschen in Syrien wieder auf die Straßen. Im ganzen Land kommt es zu Demonstrationen. Für morgen ist zu einem landesweiten Generalstreik aufgerufen worden. Dieser Aufruf wird aber vielfach schon heute umgesetzt. In zahlreichen Städten sind die Läden geschlossen. Für die Nacht, welche der Vorabend des heiligen Monats Ramadan ist, sind weitere Demonstrationen geplant.

10. Juli 2011

Saudi-Arabien: Human Rights Watch gegen deutsche Panzerlieferung

Human Rights Watch hat eine Stellungnahme gegen die geplante Lieferung von 200 Leopard 2-Panzer an Saudi-Arabien veröffentlicht.

Deutschland/Saudi-Arabien: Kein Ausverkauf bei Menschenrechten

Bundeskanzlerin Angela Merkel soll überdenken, welche politischen Signale ihre Regierung an Saudi-Arabien mit dem Verkauf von 200 in Deutschland gebauten Panzern an das Königreich sendet, bevor sie dem Geschäft zustimmt, so Human Rights Watch heute. Saudi-Arabien verfügt über eine miserabele Menschenrechtsbilanz und hat Truppen zur Unterdrückung der dortigen Demokratiebewegung nach Bahrain entsandt.

Saudi-Arabien gehört zu den wenigen Ländern der Region, deren Regierungen im Zuge der Volksaufstände in benachbarten Ländern seit Anfang des Jahres keinerlei Menschenrechtsreformen in Gang gebracht haben. Bundeskanzlerin Merkel sollte klar und unmissverständlich ihre Bedenken über die Menschenrechtsbilanz von Saudi Arabien und seiner Rolle im benachbarten Bahrain öffentlich zum Ausdruck bringen.

Die deutsche Regierung sollte als Minimalbedingung von der saudischen Regierung verifizierbare Garantien einforderen, dass die Militärausrüstung, die Deutschland dorthin exportiert, nicht unter Verletzung der internationalen Menschenrechte oder des Völkerrechts verwendet wird, so Human Rights Watch.

"Als saudische Panzer nach Bahrain einrollten, markierte dies den Beginn der Niederschlagung der friedlichen Demokratiebewegung", so Christoph Wilcke, Saudi-Arabien-Experte bei Human Rights Watch. "Angesichts der derzeitigen Lage könnten saudische Reformer den Verkauf deutscher Panzer an Saudi-Arabien ohne weiteres als deutsche Militärhilfe für repressive Regime auffassen."
 
Innenpolitisch erstickt die saudische Regierung jede reformerische Regung bereits im Keim. Zu den schwerwiegendsten Menschenrechtsproblemen in dem Königreich gehören:
  • Die Regierung verbietet alle Formen des friedlichen Protests. Anfang März 2011 wurde das Verbot von ranghohen Geistlichen der Regierung und Vertretern des Innenministeriums erneuert. Bis Mai wurden mehr als 160 Demonstranten verhaftet. Am 3. Juli nahmen saudische Sicherheitskräfte 14 Frauen und fünf Kinder fest, die vor dem Innenministerium in Riad friedlich dafür demonstrierten hatten, dass ihre seit Jahren ohne Anklage oder Gerichtsverfahren inhaftierten Angehörigen freigelassen oder einem Richter vorgeführt werden.
  • In Saudi-Arabien gibt es kein Gesetz, das die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen regelt. Menschenrechtler, die bei der Regierung die Anerkennung solcher Gruppen beantragten, erhielten keine Rückmeldung. Die Regierung behandelt Kritiker häufig wie Kriminelle. Shaikh Mikhlif bin Dahham al-Shammari, ein saudischer Menschenrechtler, wird seit Juni 2010 unter der fragwürdigen Anklage festgehalten, er habe "andere belästigt", indem er Ansichten wahhabitischer Hardliner kritisierte, die sich gegen schiitische Saudis richteten.
  • In Saudi-Arabien gibt es keine politischen Parteien. Im Februar bereitete eine Gruppe von Reformaktivisten die Gründung der ersten saudischen Partei vor; die meisten Mitglieder der geplanten "Partei der Islamischen Nation" wurden jedoch von der Geheimpolizei verhaftet.
  • Saudi-Arabien schränkt die Meinungsfreiheit in erheblichem Maße ein. Im Januar wurde eine Verordnung über elektronische Publikationen erlassen, die praktisch alle elektronisch verbreiteten Nachrichten und Kommentare dem repressiven saudischen Pressegesetz unterwirft. Die Verordnung verpflichtet zudem jeden, der derartige Nachrichten im Internet veröffentlicht, einen Presselizenz zu beantragen und sich an weit gefasste Einschränkungen bezüglich des Inhalts der Beiträge zu halten, etwa an die Verpflichtung, islamisches Recht zu befolgen, und an Verbote, Dritte zu "kränken" oder die Wirtschaft oder Sicherheit des Landes zu "kompromittieren".
  • Saudi-Arabien diskriminiert Frauen systematisch. Das weltweit einzigartige Fahrverbot für Frauen ist nur ein Beispiel für die Unterdrückung von Frauen, die auf den verschiedensten Gebieten stattfindet. Am 22. Mai ließen die saudischen Behörden Manal al-Sharif verhaften, weil sie Auto gefahren war. Bis Ende Juni wurden mindestens sieben weitere Frauen inhaftiert, die es gewagt hatten, sich ans Steuer zu setzen.
Ein jüngeres Beispiel für die Art der saudischen Regierung, mit friedlichem Protest umzugehen, ist der 11. März 2011, der Tag für den Oppositionelle im Internet zu Straßenprotesten aufgerufen hatten. Die Regierung ließ in Riad und anderen Städten in massivem Umfang Sicherheitskräfte aufmarschieren. Ein einsamer Demonstrant, Khalid al-Juhani, erschien in Riad und sprach mit der BBC über seinen Wunsch nach Meinungsfreiheit und Demokratie. Er wurde auf dem Nachhauseweg verhaftet und wurde mehr als zwei Monate lang in Einzelhaft gesperrt. Al-Juhani befindet sich weiter in Haft und wurde wegen "Unterstützung von Demonstrationen und Gesprächen mit ausländischen Medien" angeklagt.

"Saudi Arabien hat die Bemühungen einheimischer Reformer, Demokratie und einen besseren Schutz der Menschenrechte zu erkämpfen, wieder und wieder niedergeschlagen", so Wilcke. "Panzer zu verkaufen und gleichzeitig über Menschenrechtsverletzungen hinwegzusehen ist das falsche Signal, insbesondere im Hinblick auf die Versprechen europäischer Staats- und Regierungschefs gegenüber den Demokratiebewegungen im Nahen Osten, eine neue unterstützende Haltung einzunehmen."

Syrien: Nein zum "Dialog"! Hama trotzt den Angriffen des Regimes.

Dieser Freitag hatte das Motto: "Nein zum Dialog!" Und was soll das für ein Dialog sein, in dem die eine Seite auf die andere permanent schießt und mordet? So gingen die Menschen wieder auf die Straße. Und erneut waren es nicht weniger. Und auch wenn es über 20 Menschenleben gekostet hat, trotzt die Stadt Hama dem Regime. Ungeachtet der Angriffe des Regimes, die unter der Woche stattfanden, versammelten sich Hunderttausende auf dem Uhrenplatz. Die Stadt bleibt für das Regime verloren. "Das Assad-Regime ist in Hama am Ende" bekamen die wenigen ausländische Beobachter immer wieder zu hören.

Gestern teilten die Bewohner Hamas in einer Erklärung mit, sie würden ihren zivilen Ungehorsam weiter fortsetzen, bis folgende Forderungen erfüllt seien:
  1. Ende der Belagerung der Stadt, Abzug der Armee, Rückzug der Sicherheitskräfte, der Milizen und der Vertreter der libanesischen Partei Hizbollah aus der Stadt
  2. Rückkehr des Bürgermeisters Ahmad Khaled Abd Elaziz in sein Amt
  3. Ausweisung von Mohammed Mefleh, Chef der militätischen Sicherheit aus der Stadt aufgrund seiner Verantwortung für das Massaker, das in der Stadt angerichtet wurde.
  4. Freilassung aller etwa 1320 Inhaftierten
  5. Einstellung der Verfolgung der Protestierenden
Sie betonen, dass dies nicht die Forderungen der syrischen Revolution sind (auch wenn sie ein Teil davon sind) und das Ziel eines Wandel des politischen Systems weiter bestehen bleibt.

4. Juli 2011

Syrien: Das Regime bringt die Gewalt zurück nach Hama

Wie befürchtet sind heute gegen 4.00 Uhr morgens Regimekräfte in Hama eingedrungen. Die Stadt soll komplett abgeriegelt sein u. a. mit 300 Panzern. Die Kommunikation ist unterbrochen. Wahllos wurde auf Menschen geschossen, Dutzende festgenommen. Es ist von zahlreichen Verletzten die Rede. Angesichts der Erfahrung, die andere Städte gemacht haben, versuchen die Menschen, die beiden Krankenhäuser vor Zerstörung und Besetzung durch die Schergen des Regimes zu schützen. Auch Barrikaden aus brennenden Autoreifen und Müllcontainern wurden errichtet, um ein weiteres Vorgehen der Sicherheitskräfte zu behindern. Es wurden wohl hauptsächlich zwei Stadtviertel heimgesucht. Bisher waren die Städte, die komplett vom Regime besetzt wurden, höchstens 100.000 Einwohner groß. Hama hat etwa 700.000 Einwohner. Es ist zu hoffen, dass sich das Regime nicht traut, die ganze Stadt zu besetzen oder es sich daran "verschluckt". Dass die Bewohner Hamas heute als Antwort auf das gewaltsame Eindringen in Generalstreik getreten sind, ist ein gutes Zeichen ihrer Entschlossenheit, sich nicht zu beugen.

3. Juli 2011

Syrien: "Verschwinde!"

Das Motto der Freitagsdemonstrationen war denkbar einfach: "Verschwinde!" Dies als Antwort an Assad und die Pseudo-Dialogangebote seines Regimes. "Mit Mördern gibt es keinen Dialog", so die einhellige Meinung der Demonstranten. Über 260 Demonstrationen wurden gezählt, mit geschätzten 3 Millionen Teilnehmern. Und wie dieser "Dialog" in der Realität aussieht, zeigte sich leider auch wieder: 31 Tote. 
Die großen schwarzen Buchstaben bedeuten: "Verschwinde!" - Umgestaltete Werbetafel in Idlib.
In Hama demonstrierten erneut Hunderttausende. Und das vierte Mal in Folge waren keinerlei Bewaffnete des Regimes zu sehen, nicht mal die Verkehrspolizei. Und gerade deshalb blieb alles friedlich. Aber das Regime will Gewalt. Anders ist es nicht zu erklären, dass der Gouverneur von Hamas am Sonnabend abgesetzt wurde, ohne Angaben von Gründen. Es steht zu befürchten, dass die Gewalt wieder Einzug hält in Hama. Heute gibt es Berichte, wonach um Hama Sicherheitskräfte zusammengezogen werden und sie sich auf dem Weg in die Stadt machen.

19. Juni 2011

Syrien: "Du kannst die Blumen zertreten, Bashar, aber Du kannst den Frühling nicht aufhalten."

Die Demonstrationen dieses Freitages waren Saleh al-Ali gewidmet, einem Widerstandskämpfer gegen die französische Besatzung nach dem Ersten Weltkrieg. Natürlich tobte das Regime ob dieser Wahl. Das sei ein "Missbrauch" des Helden. Die Baath-Partei gibt sich als den einzigen Garanten der syrischen Souveränität. Doch die nationalistische Rhetorik verfängt schon lange nicht mehr bei den Demonstranten. Erinnert sei an die Parole: "Wer auf das Volk schießt, ist der Verräter." Ihre Wahl Saleh al-Alis signalisiert auch noch etwas anderes. Sie wollen sich nicht auf religiöse Spaltungen einlassen und der Vorwurf, sie seien sunnitische Extremisten, wird zurückgewiesen: denn Saleh al-Ali war Alawit.
Demonstration am Freitag, den 17.06.2011, in Hama
Ich wiederhole es gerne: Es werden nicht weniger. Dieser Freitag sah mindestens genauso viele Demonstranten wie die Freitage zuvor. "Du kannst Blumen zertreten, Bashar, aber Du kannst nicht den Frühling aufhalten" war auf einem Transparent zu lesen. Zunehmend soll sich auch die Mittelschicht beteiligen. Bisher waren die Proteste v. a. von der Mehrheit der Armen getragen worden.

Und schon am nächsten Tag, den Sonnabend, gab es vielerorts wieder Demonstrationen. Denn das Regime ließ am Freitag wieder schießen. Etwa 20 Tote waren zu verzeichnen. Ohne zu übertreiben kann man sagen, dass es in Hama, Deir Azzour und Harasta (ein Vorort von Damaskus) jeweils(!) Zehntausende waren, die den Toten das letzte Geleit gaben.

Und das Regime? Nun, unter der Woche wurde verkündet, Rami Makhlouf (Cousin von Bashar und reichster Syrer) würde sich aus seinen Geschäften zurückziehen und nur noch für die Allgemeinheit arbeiten, Jobs schaffen und Teile seines Vermögens für wohltätige Zwecke spenden. Was von diesen Ankündigungen gehalten wurde, zeigte sich, als erneut wieder Niederlassungen von Syratel, der Mobilfunkfirma Makhloufs, verwüstet wurden.

Ach ja, und dann gibt es noch die Kampagne einiger Kräfte des Regimes, die die Demonstranten als schwul diffamieren. Ja, richtig gelesen, der Vorwurf lautet: "Die sind doch alle schwul!" So weit zum politischen Niveau des Regimes.